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Schuld, Scham und Sehnsucht

Eine Abtreibung belastet die Frau psychisch stark und kann zu einer Folgeerkrankung führen, zum «Post Abortion Syndrome » (engl. kurz: PAS). Auslöser (trigger) lassen bisweilen unwillkürlich innere Bilder auftreten und damit verbundene Gefühle wie Angst und Panikattacken.

Das Bild, in dem eine Patientin ihre Gefühlslage malte, zeigt sie in einem Käfig.
Das Bild, in dem eine Patientin ihre Gefühlslage malte, zeigt sie in einem Käfig.

So wurde eine Lehrerin durch die Kinder ihrer Schulklasse ständig an ihr abgetriebenes Kind erinnert, das gleich alt gewesen wäre. Nach der Abtreibung verminderte sich ihr Selbstwertgefühl derart, dass sie sich sogar das Autofahren nicht mehr zutraute und schliesslich berufsunfähig wurde. Eine Therapie, die nicht auf das Trauma der Abtreibung einging, führte zu einer Symptomverschiebung: Die Patientin konnte zwar wieder Auto fahren, litt nun aber an Angst vor Krebs. Erst eine Psychotherapie, welche die Abtreibung und deren Begleitumstände einbezog, machte die Frau fähig, das Trauma zu verarbeiten und sich wieder dem Leben zuzuwenden.

Die persönliche Mitverantwortung an der Abtreibung erschwert die Überwindung des Traumas. Oft können sich die Frauen (und Männer) nicht verzeihen, wenn sie erkennen, dass sie ein Kind abgetrieben haben. Drei Faktoren sind es, welche die Heilung beeinträchtigen: Schuld, Scham und Sehnsucht nach dem Kind.

Ein Ehepaar war lange verheiratet, als die Frau schwanger wurde. Zwei «ergebnisoffene» Beratungsgespräche machten der Frau nicht jenen Mut zum Leben mit dem Kind, den sie suchte. Der Ehemann wollte wieder eine Frau, die frei von Konflikten wegen der Schwangerschaft war, und drang auf Abtreibung. Nach dem Eingriff erwachte sie mit dem Gefühl einer grossen inneren Leere und dem Gedanken: «Ich habe mein Leben abgeschnitten.» Sie wurde schwer depressiv. Beide Partner dachten an Selbstmord. Die Ehe geriet in eine grosse Krise. Der Mann erkannte, dass er, statt Frau und Kind zu schützen, egoistisch gehandelt hatte. Ein Ersatzkind sollte helfen, die Sehnsucht nach dem verlorenen Kind zu mildern. Die Geburt verlief kompliziert und das Baby musste für einige Tage in die Kinderklinik. Die Mutter entwickelte sofort Verlustängste. Diese sind oft Ausdruck unbewusster Bestrafungsphantasien. Die Eltern lebten mit dem Kind in einer Atmosphäre ständigen Streites und mit dem inneren Auftrag, aneinander zu leiden. Das Leben durfte nicht mehr schön sein, weil das erste Kind nicht leben durfte.

Die Psychotherapie machte diese Zusammenhänge bewusst. Das Bild (siehe oben), in dem die Frau ihre Gefühlslage malte, zeigt sie in einem Käfig. Sie ist ohne Hände und Füsse, handlungsunfähig, ohne Bodenhaftung. Ihr Mund ist traurig. Sie sieht sich im Blut des Kindes im Käfig ihrer Scham und Schuld gefangen. Andere Frauen, so sagt sie, litten auch so: «Wir müssen endlich diese Käfigtüren des Verschweigens öffnen und davon sprechen, wie sehr man nach einer Abtreibung leiden kann.»

Dr. med. Angelika Pokropp-Hippen (†)